Glatteis und Mitverschulden des Geschädigten
Einen für die Praxis überaus wichtigen Fall hatte nunmehr der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 01.07.2025 (Az. VI ZR 357/24) zu entscheiden. In diesem Verfahren ging es um die Frage, wann ein aufgrund fehlender Schneeräumung gestürzter Passant gegenüber dem Eigentümer erfolgreich Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend machen kann. Insbesondere war dabei relevant, wie viel der Geschädigte vor Gericht vorzutragen hat und wann von einem die Haftung des Räum- und Streupflichtigen ausschließenden Mitverschulden des Gestürzten auszugehen ist.
Der Fall:
Die Klägerin, eine zum Unfallzeitpunkt 80-jährige Dame, war am 08.02.2021 vor dem Grundstück des Beklagten zu Fuß unterwegs. Sie behauptet, an diesem Tag gegen 15:15 Uhr auf dem vereisten und deshalb durchweg spiegelglatten Bürgersteig vor dem Grundstück des Beklagten gestürzt zu sein. An der Sturzstelle hatte sich nach ihren Ausführungen eine derart dicke, nicht durch Schnee bedeckte Eisschicht gebildet, dass nach Einschätzung ihres Begleiters seit Tagen nicht mehr gestreut worden sei. Die Eisglätte hatte sie vor dem Sturz zwar noch bemerkt und unverzüglich die Straßenseite wechseln wollen. In diesem Moment sei sie jedoch schon gestürzt, was zu diversen Verletzungen und Beschwerden geführt hatte.
Die Entscheidung:
Das Landgericht und das hiernach befasste Oberlandesgericht haben die Klage der Geschädigten abgewiesen. Dabei stützen sich die Richter unter anderem darauf, dass es der Klägerin nicht gelungen sei, hinreichend konkret darzulegen, dass der Grundstückseigentümer seiner Räum- und Streupflicht nicht nachgekommen sei und dass an dem Tag Glätte bestanden hätte. Dieser Meinung wollte sich der BGH nicht anschließen und hob die Entscheidungen auf und verwies sie zur erneuten Verhandlung an das Oberlandesgericht zurück.
Die Gründe:
In seiner Entscheidung ließ sich der Bundesgerichtshof von zwei für die Praxis wichtigen Gedanken leiten:
Zunächst war der Bundesgerichtshof der Auffassung, dass ein Passant, der vor einer Immobilie stürzt, seiner Darlegungs- und Beweislast in einem Schadensersatz- und Schmerzensgeldverfahren gegen den Gebäudeeigentümer gerecht wird, wenn er im Gerichtsverfahren vorträgt, dass am streitgegenständlichen Unfalltag mit einer Temperatur um 0° C eine allgemeine Glättebildung ausgelöst wurde und als Beweis hierfür die Einholung eines meteorologischen Sachverständigengutachtens anbietet. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs hat sich damit der Geschädigte nämlich nicht darauf beschränkt, zu den Außentemperaturen vorzutragen. Vielmehr hat er bei verständiger Würdigung des Vortrags darüber hinaus auch eine Glättebildung behauptet, die eine Räum- und Streupflicht auslöst. Dieser Gedanke des Bundesgerichtshofs ist deshalb so praxisrelevant, weil er die Schwelle des erforderlichen Vortrags eines gestürzten Passanten im Regressverfahren gegen den Grundstückseigentümer erheblich nach unten schraubt.
Auch ein zweiter Gesichtspunkt der Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist von großer Bedeutung für Grundstückseigentümer. Landgericht und Oberlandesgericht waren der Auffassung, dass eine Klage auch deswegen abzuweisen sei, weil davon auszugehen war, dass die 80-jährige Passantin ein erhebliches Mitverschulden an dem Sturz getroffen habe, das die Haftung des Grundstückseigentümers ausschließt. Auch dieser Meinung wollte sich der Bundesgerichtshof nicht anschließen.
Ein die Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen ausschließender, weit überwiegender Verursachungsbeitrag des Geschädigten kann nach Auffassung des Bundesgerichtshofs nur angenommen werden, wenn das Handeln des Geschädigten von einer ganz besonderen, schlechthin unverständlichen Sorglosigkeit gezeichnet ist. So hat der Bundesgerichtshof in einem bereits entschiedenen Fall (Urteil vom 20.11.1984 – VI ZR 169/83) bereits herausgearbeitet, dass ein Geschädigter, der „bewusst und ohne Not“ einen spiegelglatten Parkplatz betritt, nur um sein Auto zu holen, in hohem Maße die Sorgfalt verletzt, die ein vernünftig Handelnder zum Schutze der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens anzuwenden hat. Hierauf beriefen sich Land- und Oberlandesgericht in dem zu entscheidenden Fall. Der Bundesgerichtshof wandte beiden Gerichten jedoch entgegen, dass auch in dem von ihnen zitierten Fall der Senat ein überwiegendes Mitverschulden nicht angenommen hatte, weil auch insoweit von dem Räum- und Streupflichtigen ein erheblicher Verschuldensgrad bei der Nichträumung des Parkplatzes zu erkennen gewesen ist.
So bringt der Bundesgerichtshof auf den Punkt, dass Mindest-, aber nicht alleinige Voraussetzung für die Annahme einer schlechthin unverständlichen Sorglosigkeit des Geschädigten bei „Glätteunfällen“ ist, dass er sich bewusst einer von ihm erkannten erheblichen Gefahr aussetzt. Es reicht nicht aus, wenn der Geschädigte lediglich eine Gefahr – wie hier zum Beispiel die eines Sturzes – für möglich hält und sich sehenden Auges in diese Gefahr begibt. Da die Klägerin vorliegend, als sie die Glätte erkannte, versuchte, die Straßenseite zu wechseln, alles in ihrer Macht Stehende getan hatte, um aus dem Gefahrenbereich zu gelangen, war vorliegend ein überwiegendes Mitverschulden durch das Betreten der vereisten Fläche nicht gegeben.
Folgen für die Praxis:
Das BGH-Urteil zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, als Grundstückseigentümer seiner Räum- und Streupflicht nachzukommen. Kommt es zu einem Sturz auf nicht geräumter oder nicht gestreuter Fläche vor dem Grundstück, so braucht es nicht viel Tatsachenvortrag durch den Geschädigten, um ein mitunter kosten- und zeitintensives Haftungsverfahren vor Gericht zu erzeugen. Es reicht aus, wenn der Gestürzte vorträgt, dass aufgrund der allgemeinen Wetterlage eine Glättebildung vorhanden war und dass von dem Grundstückseigentümer nicht geräumt und nicht gestreut worden ist. Darüber hinaus zeigt die BGH-Entscheidung aber auch, dass es ausschließlich in absoluten Ausnahmefällen möglich sein wird, dem gestürzten Passanten ein so hohes Maß an Mitschuld zuzuschreiben, dass eine Haftung des Grundstückseigentümers ausgeschlossen werden könnte.

